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der springende punkt.

Moria brennt – unsere europäischen Werte gleich mit!

Moria brennt – unsere europäischen Werte gleich mit!

ENTTÄUSCHUNG. ANGST. WUT. Um diese drei Gefühle und ihre Ausprägungen dreht sich die gesamte „Flüchtlingskrise“. Ihr denkt, ich bilde damit nur einen Blickwinkel ab?

Du lebst in deiner Heimatstadt, dort bist du glücklich, auch wenn nicht immer alles einfach ist. Du gehst zur Schule, du triffst dich mit deinen Freunden. Deiner Familie geht es gut, ihr kommt über die Runden und habt meist genug Essen auf den Tisch.

Im Laufe der Zeit nimmst du Veränderungen in deinem Land wahr, die Regierung nimmt dir Freiheiten weg und radikale Islamisten versuchen die Schwäche des Staates für sich zu nutzen und einige andere Gruppen tun es diesen gleich. Du bist ENTTÄUSCHT  davon, dass dein Land immer stärker in die Krise stürzt und der Staat dich nicht mehr schützen kann.

Und wieder vergeht ein bisschen Zeit und du findest dich an einem Marktplatz wieder. Plötzlich fallen viele Schüsse, du hörst einen lauten Knall . Du siehst Menschen, die schreien. Menschen, die bluten, Menschen, die sterben und Menschen, die rennen. Du rennst!

Du rennst weiter, du hast ANGST um dein Leben und deine Zukunft, um das Leben deiner Familie, um das Leben deiner Freunde.  Mittlerweile nimmt deine Stadt mehr und mehr die Gestalt einer Ruine an, alle leben nun in permanenter ANGST und sind dem Terror ausgeliefert. Du bist verzweifelt und mit deiner Psyche am Ende. Der Rest deiner Familie sammelt ihr ganzes Geld zusammen, denn du sollst aus dieser Lage befreit werden, du sollst flüchten weg von Elend, Leid und ANGST. Du sollst leben können.

Dir wird ein Weg raus beschrieben und Begleitung zugesichert, dein Ziel ist Europa. Du hast schon einiges über Europa gehört, ein Bündnis aus weit entwickelten (Industrie-)Staaten mit florierender Wirtschaft, vielen freien Arbeitsplätzen und freien, toleranten Menschen. Du hoffst, dort ein neues Leben anfangen zu können, dort Teil der Gesellschaft zu werden und deinen Beitrag zu leisten. Immer mit dem Wunsch, dass auch mal dein Land solche Zeiten erfahren wird. Du bist auf dem Weg. Tagelanger Marsch an die Grenze und du schaffst es in die Türkei. Du hast wieder Hoffnung.

Du hast Geschichten von der Mittelmeerüberfahrt auf die griechischen Inseln gehört, aber selbst als du im vollkommen überfüllten Schlauchboot sitzt, hättest du nie gedacht, dass du von der Küstenwache an der europäischen Außengrenze wieder aufs Meer getrieben wirst, viele Tage ohne Wasser und Essen sowie medizinische Versorgung. Du hättest nie gedacht, dass dein Leben zum Spielball geostrategischer und innenpolitischer Interessen der europäischen Nationen wird. Dir dämmert langsam: Die europäischen Werte könnten nur eine Illusion sein. Du bist nun nicht nur ENTTÄUSCHT und hast ANGST sondern bist auch schon WÜTEND von all den Schikanen.

Irgendwie schaffst du es auf die griechische Insel Lesbos, ins Lager Moria – ein Glück! Aber du merkst sofort: Dieses vollkommen überfüllte Lager will nicht Europas Werte hochhalten, sondern dient nur der Abschreckung. Die Zustände sind verehrender als in deinem Herkunftsstaat. Du bist eingesperrt, wirst behandelt wie ein Tier, es gibt kein sauberes Wasser, kaum Essen und medizinische/ sanitäre Versorgung. Du bist WÜTEND, aber dein Körper leidet und hat keine Energie mehr für diese Emotion.

Du kannst nicht mehr zurück, du hast nichts mehr. Und dann brennt auch noch das Lager Moria ab. Noch mehr Leid und Elend musst du erleben und du verspürst nochmal mehr ENTTÄUSCHUNG, ANGST UND WUT.  Die Emotionen kochen hoch, du demonstrierst mit letzter Kraft gegen die Situation in den Lagern. Du weißt, die Demonstrationsfreiheit ist ein europäisches Grundrecht. Stattdessen bekommst du mit, wie die Polizei gegen deine Mitmenschen Gewalt anwendet und mit Tränengas auf Kinder schießt. Du bist gebrochen. Jetzt weißt du es: Du bist in Europa kein Mensch, du hast hier keine Rechte und keinen Schutz. An die (nicht existierenden) europäischen Werte kannst du auch nicht mehr glauben.

Ich bin ein in Deutschland geborener und aufgewachsener Mensch. Mir wurde in meiner Erziehung und in der Schule beigebracht, gerecht, tolerant und solidarisch gegenüber anderen Menschen zu sein. Als ein solcher Mensch bin ich ENTTÄUSCHT von einer deutschen Gesellschaft, die immer stärker ihrer rechten Radikalisierung verfällt und immer seltener ihr freundliches und humanistisches Gesicht zeigt. Ich habe gleichzeitig ANGST, denn ich weiß nicht, wie wir dieses Verbrechen jemals wieder gutmachen können. Und ich bin WÜTEND, wenn ich die Bilder vom Leid der geflüchteten Menschen in Moria und an allen anderen Orten sehe und merke, dass unsere Gesellschaft ihren Anstand und ihr Herz verloren zu haben scheint.

Und dann sind da „besorgte Bürger(*innen)“, die die WUT über ihren vielleicht verlorenen Arbeitsplatz oder über die Verödung ihrer Regionen an Geflüchteten auslassen. Die, die ihre ANGST vor Veränderung, vor Begegnungen mit neuen Nachbar*innen oder Kolleg*innen versuchen, mit Hass gegen Geflüchtete zu therapieren. Menschen, die die ENTTÄUSCHUNG über ihre Gesamtsituation an Menschen auslassen, die dafür am wenigsten können, denen es weitaus schlechter geht. Und auch das löst bei mir wieder ein Gefühl von WUT aus. Und auch von ANGST, dass sich unsere Politik noch mehr von diesen Wutbürger*innen lenken lässt. Und es löst ENTTÄUSCHUNG aus, dass es so wenig Empathie gibt.

Drei vollkommen verschiedene europäische Geschichten. Alle drei haben aber zwei Gemeinsamkeiten. Keiner dieser drei Menschen sieht die europäischen Werte gelebt, alle drei Menschen teilen die Gefühle der ENTTÄUSCHUNG, ANGST und WUT.

Der Auftrag ist nicht ENTTÄUSCHUNG, ANGST UND WUT zum Leitmotiv Europas werden zu lassen, sondern Werte der FREIHEIT, SOLIDARITÄT und TOLERANZ als die europäischen Werte hochzuhalten. Lasst uns damit beginnen!

Aus „Der springende Punkt“ Oktober 2020 – von Anil Altun

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